Können Sie uns etwas über weibliche Obdachlosigkeit erzählen?
Rund 35 % der von uns im Jahr betreuten Personen sind Frauen ohne Obdach oder Wohnung. Frauen sind öfter von Armut betroffen, was häufig in Zusammenhang mit Obdach- und Wohnungslosigkeit steht. Außerdem arbeiten sie oft in Teilzeit, in schlecht- oder unbezahlten Berufen wie Kinderbetreuung und der Pflege von Angehörigen. Frauen gehen meist anders mit Obdach- und Wohnungslosigkeit um als Männer. Sie verbergen ihre Situation möglichst lange und bemühen sich darum, alles normal wirken zu lassen. Familienmitglieder, FreundInnen oder Bekannte werden zu ersten Anlaufstationen. Meist, weil sie sich für ihre Situation schämen oder einfach stark mit ihrer Familie identifizieren. Erst später suchen die obdach- und wohnungslosen Frauen die Hilfe sozialer Einrichtungen. Oft haben sie bis dahin auch Zweckpartnerschaften durchlebt, um eine Unterkunft zu haben, und haben Erfahrungen mit Gegenleistungen, körperlicher oder sexueller Gewalt gemacht. Bevor sie zu Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe kommen, haben sie sich also oft schon lange nach anderen gerichtet: Familie, FreundInnen, PartnerInnen, und haben viel durchgemacht. Daher ist es ganz besonders wichtig, dass sie bei uns Sicherheit und Schutz finden.
BIPA spendete 80 „Wohlfühlpakete“ mit Hygiene- und Kosmetikartikeln für obdachlose Frauen.
Warum sind diese für obdachlose Frauen besonders wichtig? In einer Phase der Obdach- oder Wohnungslosigkeit ist Hygiene für Frauen essenziell. Dabei geht es um weit mehr als nur Pflege für das Äußere. Obdach- oder wohnungslose Frauen fallen mit einem gepflegten Äußeren weniger auf, das schützt sie vor Feindseligkeiten und Übergriffen und stärkt das Selbstbewusstsein. So trauen sie sich auch eher, nach Unterstützung zu fragen, und nehmen unsere Angebote an.
Können Frauen, die in das Notquartier kommen, die Produkte dort zwischenlagern?
Ja, jede Frau hat im Notquartier ihren eigenen Kasten, wo sie ihr Hab und Gut lagern kann. So sind in den Kästen neben Kleidung, Jacke und Co nun auch die tollen BIPA-Produkte gut aufbewahrt.
Seit 28. Oktober bietet Obdach Wien im Zuge des Winterpakets der Stadt Wien auch das Notquartier Obdach Favorita für Frauen an.
Wie wird dieses Angebot angenommen?
Das Angebot wird sehr gut angenommen. Die obdachlosen Frauen sind dankbar für einen gesicherten Schlafplatz und die Unterstützung, die wir ihnen bieten können. Gerade im Winter ist es wichtig, einen warmen Ort zu haben, wo sie schlafen, essen, duschen, plaudern und einfach verweilen können.
Wie viele Frauen wohnen derzeit im Notquartier Obdach Favorita?
Im Notquartier Obdach Favorita haben wir 50 Plätze für Frauen. Sie können sich hier ganztägig aufhalten. Morgens, mittags und abends werden Mahlzeiten und heiße Getränke serviert. Darüber hinaus gibt es Dusch-, Wasch- und Kochmöglichkeiten. BetreuerInnen stehen als AnsprechpartnerInnen zur Verfügung und beraten etwa zu weiteren Unterstützungsangeboten und möglichen Perspektiven.
Konnten Sie 2020 durch die Pandemie einen Anstieg der Obdachlosenzahlen feststellen?
Die Angebote von Obdach Wien unterstützen jährlich rund 7.500 Personen. Als aufgrund der Lockdowns alle dazu aufgerufen waren, in ihren Wohnungen zu bleiben, waren jene ohne Zuhause sichtbarer. Umso wichtiger war und ist es, dass es Angebote für Menschen gibt, die keine Bleibe haben. Wir haben es geschafft, das ganze Jahr über alle Einrichtungen offenzuhalten und täglich genau jene Menschen zu unterstützen. Bei uns konnten und können die obdach- und wohnungslosen Menschen allen Bedürfnissen nachkommen: vom momentan so notwendigen Händewaschen übers Essen bis zum Schlafen.
Was waren die größten Hürden und Probleme, mit denen obdachlose Frauen 2020 zu kämpfen hatten?
Frauen sind immer eine sehr vulnerable Gruppe. Wichtig ist, dass es spezielle Angebote und Rückzugsräume für sie gibt. Basisversorgung wie Essen, Körperpflege, Schlafplätze, aber auch Beratung ist immer essenziell. 2020 war zusätzlich Information rund um Corona wichtig, da nicht alle obdach- oder wohnungslosen Frauen regelmäßig Medien konsumieren können. Ohne Zuhause und ohne Fernseher kann man nicht täglich die Nachrichten schauen, um sich zu informieren. Daher haben wir hier viel Aufklärungsarbeit geleistet.
Wie kann man obdachlosen Frauen (und Männern) als Privatperson helfen?
Am besten, indem man die Arbeit von Obdach Wien mit einer Spende oder durch freiwillige Tätigkeit unterstützt. Im Notquartier haben uns im Frühjahr ein paar junge Freiwillige beim Kochen und bei der Essensausgabe unterstützt, das war sehr wertvoll und ein tolles Zeichen der Solidarität!
Was erhoffen Sie sich für das kommende Jahr?
Den Wunsch habe ich sicher mit vielen gemeinsam: Ich wünsche mir, dass die Pandemie ein Ende findet! Außerdem wünsche ich mir, dass die Menschen nicht wegschauen, wenn sie jemand Obdachlosem begegnen, sondern zum Beispiel per KälteApp die StraßensozialarbeiterInnen von Obdach Wien verständigen. So kann man Hilfe schicken. 2020 haben wir ja alle gemerkt, wie wichtig es ist, auf andere zu schauen!